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Fall 5 Schmidberger - Sommersemester

Sommersemester
Kurs

Europarecht (21258)

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Akademisches Jahr: 2016/2017
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Universität Regensburg

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Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Jürgen Kühling, LL. Universität Regensburg

Fall  5

EuGH, Rs. C‐112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I‐ 5659

Sachverhalt:

Der private Umweltschutzverein Transitforum Austria führt an einem

Sommerwochenende eine Versammlung auf einem Abschnitt der Brenner‐

Autobahn bei Innsbruck durch, um auf die Gefährdung der Umwelt und der

Gesundheit durch den ständig steigenden Schwerlastverkehr auf der Brenner‐

Autobahn hinzuweisen und die zuständigen Stellen zu veranlassen, die

Maßnahmen zur Verringerung dieses Verkehrs und der dadurch verursachten

Umweltbelastung der hochempfindlichen Alpenregion zu verstärken. Hierdurch

kommt der Verkehr in diesem Bereich für einen Tag zum Erliegen. Die

zuständige österreichische Behörde hält die Demonstration für nach

österreichischem Recht zulässig und schreitet daher nicht dagegen ein. Im

Vorfeld hatte sie die Öffentlichkeit über die Verkehrsbehinderung und

entsprechende Umfahrungsmöglichkeiten informiert.

Die deutsche Spedition Schmidberger, die regelmäßig über die Brenner‐

Autobahn Fahrten nach Italien durchführt, sieht in der Untätigkeit der

österreichischen Behörden einen Verstoß gegen die unionsrechtlich garantierte

Warenverkehrsfreiheit.

Zu Recht?

Lösung:

Die Untätigkeit der österreichischen Behörden könnte eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit nach Art.  34  AEUV darstellen. Eine solche liegt vor, wenn in nicht gerechtfertigter Weise in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit eingegriffen wurde.

I. Schutzbereich

Zunächst müssten der sachliche und der persönliche Schutzbereich eröffnet sein.

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  1. Sachlicher Schutzbereich

Damit der sachliche Schutzbereich eröffnet ist, dürfen keine vorrangigen sekundärrechtlichen Regelungen einschlägig sein (a), es muss ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen (b), es muss der Handel mit einer „Unionsware“ betroffen sein (c) und es dürfen keine Bereichsausnahmen oder anderen Sonderregeln einschlägig sein (d).

a) Sekundärrechtliche Regelungen sind nicht ersichtlich.

b) Im vorliegenden Fall sollen Transporte zwischen Deutschland und Österreich und Italien durchgeführt werden. Es handelt sich folglich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt.

c) Waren sind körperliche Gegenstände, die einen Handelswert haben und im Hinblick auf Handelsgeschäfte über eine Grenze verbracht werden können. Es handelt sich vorliegend um den Transport entsprechender „Waren“, die auch im EU‐Gebiet zirkulieren, also um „Unionswaren“.

d) Bereichsausnahmen oder Sonderregelungen sind nicht ersichtlich.

Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet.

  1. Persönlicher Schutzbereich

Jede Person, die ein Interesse an der Durchsetzung der Warenverkehrsfreiheit hat, kann sich auf sie berufen, ohne selbst bestimmte Anforderungen erfüllen zu müssen. Die Warenverkehrsfreiheit knüpft allein an die Herkunft der Ware an, siehe Art.  28  Abs.  2  AEUV. Die Schmidberger Spedition, ein deutsches, privates Unternehmen, unterfällt als juristische Person dem persönlichen Schutzbereich der Norm, wie sich aus einer entsprechenden Anwendung des Art.  54  Abs.  2  ergibt.

Der Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit ist folglich insgesamt eröffnet.

II. Eingriff in den Schutzbereich

In diesen Schutzbereich müssten die österreichischen Behörden eingegriffen haben, indem die zuständigen Behörden die Versammlung von Demonstranten, die für eine bestimmte Dauer die Autobahn blockierten, nicht untersagten. Ein Eingriff liegt vor, wenn ein Adressat der Warenverkehrsfreiheit eine mengenmäßige Ein‐ oder Ausfuhrbeschränkung oder eine Maßnahme gleicher Wirkung erlässt.

  1. Adressat der Warenverkehrsfreiheit

Fraglich ist, wer Adressat der Warenverkehrsfreiheit ist.

Dies könnte die private Umweltschutzvereinigung Transitforum Austria sein. Allerdings sind Private grundsätzlich nicht an die Grundfreiheiten gebunden. Ausnahmen bestehen hier nur in Rahmen besonderer kollektiver Macht privater Einrichtungen (z. Verbandsmacht), die

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Brenner‐Autobahn führte, nicht untersagten, eine Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs darstellt und daher als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen ist.

III. Rechtfertigung

Möglicherweise kann das Nichteinschreiten der österreichischen Behörden jedoch gerechtfertigt werden.

  1. Rechtfertigungsgrund („Schranke“)

Es müsste ein Rechtfertigungsgrund vorliegen.

a) Geschriebene Rechtfertigungsgründe, Art.  36  AEUV

Geschriebene Rechtfertigungsgründe, die sich aus Art.  36  AEUV ergeben, sind nicht ersichtlich. Insbesondere stellt der Umweltschutz keinen geschriebenen Rechtfertigungsgrund dar. In Betracht kommt allerdings die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit insoweit, als Österreich geltend machen könnte, dass ein Eingreifen in die Demonstration diese hätte gefährden können. Unabhängig davon, dass insoweit keine Anhaltspunkte vorliegen, wird dieser Eingriffsgrund in der Rechtsprechung des EUGH aber sehr eng interpretiert und greift daher vorliegend nicht ein.

b) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (immanente Schranken)

Es könnten jedoch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe, sog. „immanente Schranken“ i.S. der Cassis‐Rechtsprechung greifen.

Danach müssen Hemmnisse für den Binnenhandel, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung von Erzeugnissen ergeben, hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und dem Verbraucherschutz. Diese Aufzählung ist jedoch nicht abschließend. Mittlerweile ist der Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis“ anerkannt. Rein wirtschaftliche Gründe werden nicht erfasst. Es kommt jedoch zu einer fortwährenden Erweiterung der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH, soweit Art.  36  AEUV unzureichend erscheint.

Im vorliegenden Fall könnten der Umwelt‐  und Gesundheitsschutz als zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls einschlägig sein.

Auch wenn der Schutz der Umwelt und der Gesundheit der Bevölkerung unter bestimmten Umständen ein dem Allgemeininteresse dienendes legitimes Ziel darstellen kann, das

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geeignet ist, eine Beschränkung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten, zu denen der freie Warenverkehr gehört, zu rechtfertigen, ist zu berücksichtigen, dass die spezifischen Ziele dieser Versammlung insoweit nicht erheblich sind, da dieser Eingriff aus dem Umstand hergeleitet wird, dass die nationalen Stellen die Behinderung des Verkehrs auf der Brenner‐Autobahn nicht verhinderten. Es darf somit nicht auf die Ziele der Demonstranten abgestellt werden.

Für eine etwaige Rechtfertigung des Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit ist vielmehr allein auf das Handeln oder Unterlassen des Mitgliedstaates abzustellen. Es ist daher allein das Ziel zu berücksichtigen, das die nationalen Stellen mit der stillschweigend erteilten Genehmigung bzw. der Nichtuntersagung dieser Versammlung verfolgten.

Die österreichischen Behörden ließen sich von Überlegungen leiten, die mit der Achtung der Grundrechte der Demonstranten auf die Meinungsäußerungs‐ und Versammlungsfreiheit zusammenhängen, die in der Grundrechtecharta, der EMRK und der österreichischen Verfassung verankert und durch diese gewährleistet sind. Ziel Österreichs war somit, die Meinungsäußerungs‐ und Versammlungsfreiheit der Demonstranten zu schützen.

c) Unionsgrundrechte

Möglicherweise kann der Eingriff daher vorliegend nicht als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls, sondern durch den Schutz der Unionsgrundrechte, vorliegend die Meinungsäußerungs‐ und Versammlungsfreiheit, gerechtfertigt werden.

Da die Grundrechte nach Art.  51  Abs.  1  GrC sowohl von der Union als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Unionsrecht, auch kraft einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit, wie des freien Warenverkehrs, bestehen.

Hierzu ist festzustellen, dass es keine generelle Höherwertigkeit von Grundrechten oder Grundfreiheiten gibt.

Der freie Warenverkehr stellt zwar eines der Grundprinzipien des AEUV dar, kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt werden.

So können das Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art.  11  Abs.  1  GrC und das Recht, sich frei zu versammeln, aus Art.  12  Abs.  1  GrC keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden.

Folglich kann die Ausübung dieser Rechte Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den mit den Beschränkungen verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die geschützten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.

Demgemäß sind die bestehenden Interessen abzuwägen und es ist anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalles festzustellen, ob das Gleichgewicht zwischen den Interessen gewahrt worden ist.

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v) Angemessenheit

Zwar müssen die zuständigen Stellen bestrebt sein, die mit einer Demonstration auf öffentlichen Straßen verbundenen unausweichlichen Auswirkungen auf die Freiheit des Verkehrs möglichst gering zu halten, doch haben sie dieses Interesse gegenüber dem der Demonstranten, die öffentliche Meinung auf die Ziele ihrer Aktion aufmerksam zu machen, abzuwägen. Auch entgegenstehende Grundrechtspositionen, hier etwa die unternehmerische Freiheit der Spediteure aus Art.  16  GrC, sind in die Abwägung einzubeziehen.

Es ist festzustellen, dass durch die Anwesenheit der Demonstranten auf der Brenner‐ Autobahn der Straßenverkehr auf einer einzigen Strecke, ein einziges Mal für die Dauer von einem Tag blockiert wurde.

Des Weiteren handelte es sich um eine Versammlung, mit der Bürger ihre Grundrechte ausübten und bei der sie eine ihnen im öffentlichen Leben wichtig erscheinende Meinung äußerten. Diese Demonstration hatte nicht den Zweck, den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft zu beeinträchtigen.

Schließlich trafen die zuständigen Stellen im vorliegenden Fall verschiedene Rahmen‐ und Begleitmaßnamen, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten. So gab es bereits vor dem dafür vorgesehenen Termin Informationskampagnen, in deren Rahmen auch verschiedene Umfahrungsmöglichkeiten vorgeschlagen wurden, sodass die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer über die Verkehrsbeschränkungen am vorgesehenen Versammlungsort und ‐termin angemessen informiert waren und rechtzeitig umdisponieren konnten, um diesen Beschränkungen zu begegnen.

Im Übrigen schuf die Demonstration keine allgemeine Atmosphäre der Unsicherheit, die mit schweren und wiederholten Störungen der öffentlichen Ordnung einherging, die sich auf die gesamten Handelsströme nachtteilig ausgewirkt hätte. Folglich ist die Maßnahme angemessen.

c) Zwischenergebnis

Die Entscheidung der österreichischen Behörden, nicht gegen die Demonstration einzuschreiten, war verhältnismäßig. Folglich ist der Eingriff gerechtfertigt.

IV. Ergebnis

Indem die österreichischen Behörden die Demonstration an der Brenner‐Autobahn nicht untersagen, haben sie in die Warenverkehrsfreiheit des Art.  34  AEUV eingriffen. Dieser Eingriff war jedoch durch Ziele des Grundrechtsschutzes gerechtfertigt.

Die österreichischen Behörden haben durch die Nichtuntersagung der Demonstration nicht gegen die Warenverkehrsfreiheit gem. Art.  34  AEUV verstoßen.

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VorlesungEuroparechtSoSe2016
LehrstuhlProf.Dr.iur.JürgenKühling,LL.M.
UniversitätRegensburg
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Fall5
EuGH,Rs.C112/00,Schmidberger,Slg.2003,I5659
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DerprivateUmweltschutzvereinTransitforumAustriaführtaneinem
SommerwochenendeeineVersammlungaufeinemAbschnittderBrenner
AutobahnbeiInnsbruckdurch,umaufdieGefährdungderUmweltundder
GesundheitdurchdenständigsteigendenSchwerlastverkehraufderBrenner
AutobahnhinzuweisenunddiezuständigenStellenzuveranlassen,die
MaßnahmenzurVerringerungdiesesVerkehrsundderdadurchverursachten
UmweltbelastungderhochempfindlichenAlpenregionzuverstärken.Hierdurch
kommtderVerkehrindiesemBereichfüreinenTagzumErliegen.Die
zuständigeösterreichischeBehördehältdieDemonstrationfürnach
österreichischemRechtzulässigundschreitetdahernichtdagegenein.Im
VorfeldhattesiedieÖffentlichkeitüberdieVerkehrsbehinderungund
entsprechendeUmfahrungsmöglichkeiteninformiert.
DiedeutscheSpeditionSchmidberger,dieregelmäßigüberdieBrenner
AutobahnFahrtennachItaliendurchführt,siehtinderUntätigkeitder
österreichischenBehördeneinenVerstoßgegendieunionsrechtlichgarantierte
Warenverkehrsfreiheit.
ZuRecht?
Lösung:
DieUntätigkeitderösterreichischenBehördenkönnteeineVerletzungder
WarenverkehrsfreiheitnachArt.34AEUVdarstellen.Einesolcheliegtvor,wenninnicht
gerechtfertigterWeiseindenSchutzbereichderWarenverkehrsfreiheiteingegriffenwurde.
I.Schutzbereich
ZunächstmüsstendersachlicheundderpersönlicheSchutzbereicheröffnetsein.