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Vollmer Atheismus-Metaphysik

Vollmer
Kurs

Gott und die Kirche. Einführung in die frühe Theologie- und Kirchengeschichte (11150)

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Akademisches Jahr: 2014/2015
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Technische Universität München

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Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer (Neuburg)

Gott und die Welt

Atheismus, Metaphysik, Evolution

1. Atheismus Der Atheist glaubt nicht an Gott. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Entweder hat er noch nie etwas von Gott gehört; das ist sicher nur selten der Fall. Oder er ist der Meinung, das Wort ‚Gott’ habe überhaupt keine mitteilbare Bedeutung, sodass alle Sätze, in denen dieses Wort wesentlich vorkommt, unverständlich oder sinnlos seien. Oder er billigt dem Wort ‚Gott’ durchaus eine Bedeutung zu, ist aber der Meinung, dass es einen solchen Gott oder Götter nicht gebe. Er wird deshalb auch keine Anstrengungen unternehmen, darüber etwas herauszufinden. Der Agnostiker dagegen lässt die Frage nach der Existenz (eines) Gottes bewusst offen. Er traut sich nicht zu, über die Exis- tenz und die Eigenschaften Gottes Aus- sagen zu machen, die sich durch Argu- mente stützen ließen. Im Allgemeinen ist er darüber hinaus der Ansicht, dass sich an dieser Situation auch nichts ändern werde, dass es uns Menschen also ver- sagt sei, über die Existenz und die Eigen- schaften Gottes jemals etwas herauszu- finden. Genau wie der Atheist wird er es deshalb auch gar nicht erst versuchen. Der Theist glaubt an (einen) Gott. Dazu muss er sowohl dem Wort ‚Gott’ eine ver- stehbare Bedeutung zusprechen als auch die Existenz eines solchen Gottes beja- hen. Das Wort ‚glauben’ verstehen wir dabei im Sinne einer starken oder schwa- chen Überzeugung. Diese Überzeugung muss nicht ununterbrochen bestehen und braucht nicht über alle Fragen und Zwei- fel erhaben zu sein. Es genügt, dass man

die Existenz (eines) Gottes in der Regel bejaht. Gibt es nach meiner Überzeugung nur einen Gott, so bin ich Monotheist; gibt es mehrere, so bin ich Polytheist. Im Folgenden gehen wir davon aus, dass es möglich ist, dem Wort ‚Gott’ eine inter- subjektiv annehmbare Bedeutung zu ge- ben. Danach ist (ein) Gott ein höheres oder höchstes personales Wesen, Urgrund, Schöpfer und Erhalter der Welt, mäch- tig, klug, gut, gerecht. In der Regel hat er noch viele weitere Eigenschaften, die aber nicht in allen Religionen dieselben sein müssen. Selbst die genannten Eigenschaften kom- men nicht allen Göttern zu. So haben die altgriechischen Götter, so mächtig sie sein mögen, doch auch sehr menschliche und durchaus endliche Eigenschaften: Sie ver- lieben sich, sind eifersüchtig, parteiisch, listig bis hinterlistig, nachtragend, sogar rachsüchtig; sie konkurrieren miteinander, arbeiten auch gegeneinander und werden manchmal erst durch ein Machtwort des Göttervaters zum Frieden gezwungen. Zeus selbst musste sich seine Stellung erst blutig erkämpfen, indem er seinen Vater Kronos entmachtete, der seinerseits sei- nen Vater Uranos bezwingen musste. Bei mehreren Göttern ist das auch kein Wun- der: Wären alle Götter gleich, so würde ja einer von ihnen genügen. Der Monotheismus hat diese Schwierig- keiten nicht. Es gibt keine Konkurrenz, und Gott kann im Prinzip alle positiven Eigenschaften im höchsten Maße besitzen. (Solche All-Eigenschaften führen häufig zu Paradoxien, etwa zur Allmachts-Parado-

xie oder zum Theodizee-Problem. Von solchen Schwierigkeiten werden wir hier absehen.) Der Gott einer monotheistischen Religion hat allerdings einen so hohen Rang, dass er von den Menschen sehr weit entfernt ist. Nach dem christlichen Katechismus ist er ewig und unveränderlich, allmächtig und allgegenwärtig, allwissend und all- weise, größer, gerechter, gütiger, barmher- ziger, treuer und wahrhaftiger als alles, was wir uns vorstellen können. Gott ist trans- zendent. Er übersteigt nicht nur alle Natur und alle mögliche Erfahrung, sondern auch noch alle Vernunft, 1 manchmal so- gar alle Logik. Er steht so weit über uns Menschen, dass wir ihn kaum noch ver- stehen; wir müssen uns zufrieden geben mit der Überzeugung, dass er in seinem Allwissen schon wissen wird, was er tut oder geschehen lässt, und dass er in sei- ner Allgüte schon alles gut und richtig ma- chen wird. Transzendenz ist ein typisch metaphysi- sches Merkmal; Gott und Götter sind metaphysische Instanzen. Naturalisten, insbesondere Atheisten, lehnen Götter ab. Müssen sie auch alle Metaphysik ableh- nen? Um diese Frage beantworten zu kön- nen, sollten wir genauer sagen, was wir mit ‚Metaphysik’ meinen.

2. Was wollen wir unter Metaphysik verstehen? Das Wort Metaphysik hat viele Bedeutun- gen. Als erste Orientierung sagen wir: Metaphysik ist die Lehre von den ersten und den letzten Dingen. Für die Nachfol- ger des Aristoteles – er selbst spricht von der Ersten Philosophie – war sie die Wis- senschaft, die „nach“ der Physik kommt. Man kann dieses „nach“ bibliothekarisch auffassen; aber welchen guten Grund gibt

es, Bücher über Metaphysik hinter die Phy- sikbücher zu stellen? Muss man, biogra- fisch gesehen, erst einmal Physik lernen, um Metaphysik betreiben zu können? Sys- tematisch gesehen, könnte man die Meta- physik aber durchaus vor die Physik stel- len; denn sie untersucht ja gerade das, was der Physik – allgemeiner der Naturwissen- schaft oder sogar aller Erfahrungswissen- schaft – vorausliegt. Dazu gehören vor allem Grundbegriffe wie Sein, Zeit, Welt, Individuum, Objekt, Substanz, Ursache, Leben und Tod. Dieses „nach“ ist also nicht sehr hilfreich. Aber Protophysik im Sinne von Paul Lorenzen und seiner Er- langer Schule 2 ist die Metaphysik auch nicht. Was ist sie dann? Für Kant ist Metaphysik die Wissenschaft von den Grenzen des menschlichen Ver- standes. Damit können wir schon mehr anfangen. Etwas deutlicher sagen wir: Me- taphysik untersucht das, was jenseits al- ler menschlichen Erfahrung liegt. Liegt sie damit auch schon jenseits aller Erfah- rungswissenschaft? Wir sind geneigt, das anzunehmen, sollten damit aber vorsich- tig sein. Im Allgemeinen kann man in der Meta- physik zwei Anteile unterscheiden: Beim ersten Anteil, der Ontologie , geht es um das Seiende, also um alles, was existiert, auch um das, was existieren könnte. (Vie- len geht es angeblich auch um das Sein; mir ist aber nie klar geworden, was unter dem Sein zu verstehen ist. Mit den logi- schen Positivisten hege ich den Verdacht, dass uns hier die Sprache irreführt, weil sie uns erlaubt, alle Infinitive zu substanti- vieren. Während das beim „Essen“ und beim „Denken“ sinnvoll ist, hat der Aus- druck „das Sein“ keinen für mich erkenn- baren Sinn.) Den zweiten Bestandteil der Metaphysik bilden die Sinn- und Wert-

  • Sinnsuche: Nach Immanuel Kant ge- hört die Frage „Was darf ich hoffen?“ zur Religion, die Religion aber zur Phi- losophie. Heute dagegen sehen wir die Religion eher nicht als Teil der Philo- sophie, sondern als eigenständiges Ge- biet, und zwar als Theologie (Gottes- lehre) einerseits, als Religionswissen- schaft andererseits. Die Frage nach dem, was wir hoffen dürfen, halten wir je- doch – ganz unabhängig von der Reli- gion – durchaus für philosophisch; wir ordnen dort vor allem Sinnfragen ein. „Das kann doch nicht alles gewesen sein.“ ist ein oft gehörter Einwand ge- gen (natur-)wissenschaftliche, allgemein gegen naturalistische Erklärungen. Es geht dabei um sehr unterschiedliche Sinnbezüge: um den Sinn des Lebens 4 , des Menschen überhaupt, der Welt im Ganzen, aber auch um das Weiterleben nach dem Tode und einen möglichen Ausgleich für irdische Taten, Vergehen und Leiden.

4. Anhänger und Gegner der Metaphy- sik Schon immer hat die Metaphysik Anhän- ger und Gegner. Immanuel Kant (1724- 1804) ist eigentlich ihr Freund, will er ihr doch sogar helfen, „den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen“ 5. Dazu muss er jedoch die seinerzeit herrschen- de Metaphysik zunächst einmal in Frage stellen. So besteht sein Werk aus einem kritischen und einem aufbauenden Teil. Die Kritik der Metaphysik ist ihm glänzend gelungen, ihr systematischer Neuaufbau dagegen nicht, jedenfalls nicht so, dass wir ihm auch darin folgen könnten. Manch- mal wird er deshalb als Zerstörer der Me- taphysik gesehen. Einer seiner Zeitgenos- sen, der Philosoph Moses Mendelssohn

(1729-1786), nennt ihn sogar den Alles- zermalmer. Trotzdem will Heinrich Scholz (1884- 1956), Theologe, Logiker und Philosoph, 1941 „Metaphysik als strenge Wissen- schaft“ begründen. Dabei gilt ihm eine Wissenschaft als streng, wenn und soweit sie mathematisierbar und mathematisiert ist. 6 Aber Mathematisierbarkeit reicht na- türlich nicht aus, um eine Disziplin als wis- senschaftlich auszuweisen. Durch Forma- lisierung kann man Widersprüche und lo- gische Zirkel entdecken und vielleicht auch beseitigen; ob jedoch die Sätze der Meta- physik wahr sind, können Logik und Ma- thematik allein nicht entscheiden. Als Strukturwissenschaften können sie uns nämlich nichts über die Welt lehren. Mario Bunge (*1919) wünscht sich des- halb eine wissenschaftliche Metaphysik. 7 Sie soll nicht nur logisch einwandfrei sein, sondern auch verträglich mit der aktuel- len Erfahrungswissenschaft. Folgerichtig sind von seinem Hauptwerk, dem Treatise 8 , bestehend aus acht Bänden (einer davon sogar ein Doppelband), immerhin zwei Bände ausschließlich der Ontologie gewid- met, die doch traditionell den größten Teil der Metaphysik ausmacht. Die beiden Bände heißen Das Inventar der Welt und Eine Welt von Systemen. 9 Für ihn als Na- turalisten – er sieht sich lieber als Mate- rialisten – ist Ontologie die Lehre von den grundlegenden Eigenschaften der Welt, also die allgemeinste Naturwissenschaft, und da es schon in der Physik speziellere und allgemeinere Theorien gibt, so gibt es für ihn keine scharfe Trennung zwischen Physik und Metaphysik. 10 Kritiker der Metaphysik sind zunächst ein- mal die meisten Empiristen , sogar David Hume (1711-1776), der am liebsten alle Bücher, die weder der Mathematik gewid-

met sind noch auf Erfahrung beruhende Erörterungen enthalten, den Flammen über- geben möchte. 11 Gegner der Metaphysik sind aber auch die Materialisten , insbe- sondere der Arzt und Philosoph Julien Offray de Lamettrie (1709-1751) und na- türlich Karl Marx (1818-1883) und Fried- rich Engels (1820-1895), alle Positivisten im weiteren Sinne, angefangen mit Auguste Comte (1798-1857) und Ernst Mach (1838- 1916) über Pragmatisten wie William Ja- mes (1842-1910) und Charles Sanders Peirce (1839-1914), Instrumentalisten wie John Dewey (1859-1952), Operationalisten wie Percy Williams Bridgman (1882-1961) bis zum logischen Positivismus des Wie- ner Kreises, allen voran Moritz Schlick (1882- 1936) und Rudolf Carnap (1891-1970), der den metaphysischen Sätzen Sinnlosigkeit vorwirft und eine „Überwindung der Me- taphysik durch logische Analyse der Spra- che“ 12 anstrebt. Für ihn ist Metaphysik nicht wahrheitsfähig; sie sei eher mit der Lyrik zu vergleichen: „Metaphysiker sind Lyri- ker ohne musikalische Fähigkeit.“ 13 Eine interessante Sonderstellung nimmt Hans Reichenbach (1891-1953) ein. 1926 bis 1933 war er Leiter der Berliner Gesell- schaft, der mit dem Wiener Kreis eng zu- sammenarbeitete. Man traf sich zu Vor- trägen, organisierte Kongresse, und zu- sammen mit Rudolf Carnap war er ab 1930 Herausgeber der wissenschaftstheoreti- schen Zeitschrift Erkenntnis. Deshalb wird er oft zu den Positivisten gerechnet. Zu Unrecht! In seinem Buch Experience and prediction 14 von 1938 (deutsch lei- der erst 1983) kritisiert er den Positivis- mus und argumentiert für den Realismus, also für die These, dass es eine struktu- rierte und für uns erkennbare reale Außen- welt gibt. Man ist sich heute einig, und auch wir werden noch sehen, dass der

ontologische Realismus eine metaphysi- sche Hypothese ist. Reichenbach selbst benützt das Wort ‚Metaphysik’ so gut wie gar nicht; aber seinen Texten dürfen wir wohl entnehmen, dass er der Metaphysik feindlich gegenüberstand. Es ergibt sich also das Paradoxon, dass Reichenbach zwar kein Metaphysiker sein möchte, als Realist aber eben doch Metaphysiker ist. Oft wird auch Karl Raimund Popper (1902- 1994) als Positivist und damit als Gegner der Metaphysik angesehen. Dagegen hat sich Popper jedoch immer gewehrt. Ja, er schreibt sich sogar das Verdienst zu, den Positivismus vernichtet zu haben. „Ich fürchte, dass ich mich als Täter bekennen muss.“ 15 Auch das von ihm formulierte Pos- tulat der Falsifizierbarkeit („Eine erfahrungs- wissenschaftliche Theorie muss an der Erfahrung scheitern können!“) dient ihm nur als Abgrenzungs kriterium – und nicht etwa als Sinn kriterium wie die Verifizier- barkeit im Wiener Kreis. Danach können metaphysische Sätze durchaus einen Sinn haben; sie gehören nur nicht zu den Er- fahrungswissenschaften, weil sie nicht als falsch erkannt, nicht widerlegt, nicht fal- sifiziert werden können. Dieser Auffas- sung schließen wir uns hier an.

Wie stellen sich Naturalisten zur Metaphy- sik? Auf den ersten Blick könnte man mei- nen, sie müssten Metaphysik völlig ableh- nen, sind sie doch nach einer beliebten Charakterisierung der Meinung, überall in der Welt gehe es „mit rechten Dingen“ zu, was bei der Metaphysik nicht immer der Fall ist. So unbestimmt diese Formulie- rung auch klingen mag, so verweist sie doch auf die zwei wichtigsten program- matischen Züge des modernen Naturalis- mus: Universalität und Mittelbeschrän- kung. 16 Die Mittelbeschränkung kommt

„Sir Karl, Sie sagen doch, eine wis- senschaftliche Theorie müsse falsifi- zierbar sein. Ist Ihre Falsifizierbarkeits- theorie falsifizierbar?“ Da legt Popper seine Hand auf meine und durchbohrt mich mit einem strahlenden Lächeln. „Ich möchte Sie nicht verletzen,“ sagt er mit sanfter Stimme, „aber das ist eine dumme Frage.“ 17

Was könnte an dieser Frage dumm sein? Wie alle Wissenschaftstheorie ist Poppers Theorie keine erfahrungswissenschaft- liche, sondern eine metawissenschaftliche Theorie. Sie unterliegt deshalb nicht den Forderungen, die wir an erfahrungswis- senschaftliche Theorien stellen; insbeson- dere muss sie nicht falsifizierbar sein. Dass sie es nicht ist, ist also kein Kritikpunkt. Viele andere Aussagen sind ebenfalls nicht falsifizierbar: Fragen und Ausrufe, Nor- men (also Gebote, Verbote und Erlaub- nisse), Wertungen, Regeln, etwa Spielre- geln, Sprachregeln (insbesondere Defini- tionen). Auch bei ihnen ist es kein Ein- wand, dass sie nicht falsifizierbar sind. Horgans Frage ist keineswegs dumm; sie zeigt aber, dass er Popper nicht gründlich gelesen oder eben nicht ganz verstanden hat – aber wer hat das schon? Allerdings hat Popper sein Instrumentari- um längst erweitert. Wissenschaftstheorie ist zwar kein erfahrungswissenschaftliches Unternehmen, wohl aber ein wissenschaft- liches, allgemeiner noch: ein rationales Unternehmen. Und ein rationales Unter- nehmen sollte (zwar nicht unbedingt fal- sifizierbar, wohl aber) kritisierbar sein. Es muss sich also der Kritik aussetzen. Es sollte somit möglich sein, dass jemand sei- ne Position aufgibt, nicht weil sie falsifiziert wäre, sondern weil sie rationaler Kritik nicht standhält.

Horgan hätte also fragen können: „Sir Karl, Sie sagen doch, eine gute wissen- schaftliche Theorie müsse kritisierbar sein. Ist Ihre Falsifizierbarkeitstheorie kritisier- bar?“ Darauf hätte Popper zweifellos ge- antwortet: „Ich will Ihnen nicht schmei- cheln; aber das ist eine kluge Frage.“ Und er hätte die Bedingungen, insbesondere die Kritikpunkte nennen können, unter denen er bereit gewesen wäre, seine Falsifizier- barkeitstheorie aufzugeben, obwohl sie nicht falsifizierbar und erst recht nicht fal- sifiziert war. Mit Hilfe der Kritisierbarkeitsforderung sind wir nun in der Lage, verschiedene Arten von Metaphysik zu unterscheiden. Wir nennen sie gute und schlechte Meta- physik. Gute Metaphysik ist kritisierbar, etwa über Erfolg und Misserfolg von Hy- pothesen, Theorien, Methoden, Normen oder Moralsystemen, die wesentlich auf ihr beruhen. Sie sollte dann auch revidier- bar , also aufgrund von Argumenten er- setzbar sein. Schlechte Metaphysik ist da- gegen nicht kritisierbar und deshalb auch nicht revidierbar; sie ist dogmatisch. Gleich- wohl kann auch schlechte Metaphysik verschwinden; sie weicht damit aber nicht besseren Argumenten oder besserer Ein- sicht; vielmehr geht die Zeit über sie hin- weg. Die Idee einer kritisierbaren und er- setzbaren Metaphysik ist nicht neu; so spricht der Philosoph Peter Frederic Straw- son (1919-2006) von einer revisionsfähi- gen (revisionary) Metaphysik, die Verbes- serungen erlaubt und anstrebt. 18 Auch der Philosoph Hans Poser wünscht sich eine solche revidierbare Metaphysik. 19 Eine analoges Begriffspaar wählt Helmut Walther. 20 Er unterscheidet richtige und falsche Metaphysik. Von der Absicht her ist das nichts anderes als unser Paar gut und schlecht. Wir folgen diesem Vor-

schlag jedoch nicht, weil richtig und falsch uns zu sehr an die Wahrheitswerte wahr und falsch erinnern und damit nahe legen, dass man in der Metaphysik eini- germaßen zuverlässig zwischen wahr und falsch – nicht nur unterscheiden, sondern

  • entscheiden könne. Das ist aber, wie wir gesehen haben, ganz und gar nicht der Fall.

7. Der Evolutionsgedanke und die na- türliche Auslese Eines der Grundprinzipien der Evolutions- biologie ist das Selektionsprinzip, genau- er das Prinzip der natürlichen Auslese : Lebewesen vermehren sich unterschied- lich aufgrund unterschiedlicher Tauglich- keit. 21 Etwas vornehmer sprechen wir auch von „differentieller Reproduktion in Kor- relation mit der Gesamtfitness“. Es ist das wichtigste Prinzip, das Charles Darwin den bereits existierenden Ansätzen zu einer Evolutionstheorie hinzugefügt hat. Des- halb nennt man diesen theoretischen Ent- wurf auch Darwinismus. Wie definiert und wie misst man ‚Taug- lichkeit’ oder ‚Fitness’? Häufig hört man, die Fitness eines Organismus werde über das Überleben oder über die Zahl der Nach- kommen definiert. Wenn aber die Fitness definitorisch an das langfristige Überleben gebunden ist, dann scheint das Selektions- prinzip nicht mehr zu behaupten als das Überleben des Überlebenden, also nur ein survival of the survivor. Dann wäre es zir- kulär, letztlich sogar analytisch, und würde nicht viel sagen. Es wäre dann auch nicht prüfbar, insbesondere nicht falsifizierbar. Nach Poppers Falsifizierbarkeitsforderung wäre die Theorie der natürlichen Auslese also gar keine erfahrungswissenschaftliche Theorie. Er selbst meint: „Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass der Darwinismus

keine prüfbare wissenschaftliche Theorie ist, sondern lediglich ein metaphysisches Forschungsprogramm – ein möglicher Rahmen für empirisch prüfbare Theori- en.“ 22 Viele Autoren, sogar zahlreiche Bio- logen, haben diese Einschätzung mit ei- nem voreiligen „Na und?“ übernommen. Dass ein Satz nicht analytisch-tautologisch und zugleich metaphysisch sein kann, las- sen wir hier unerörtert. Aber Popper hat sich geirrt. Wenn man das Selektionsprinzip sorgfältig formuliert, er- kennt man, dass es kein analytisches Ur- teil darstellt. Es ist nämlich durchaus mög- lich, Fitness zu definieren , ohne dabei auf das langfristige Überleben zurückzugrei- fen. 23 Manfred Eigens „Wertfunktion“ W: = AQ – D liefert sogar ein quantitati- ves Maß für Fitness. 24 Dabei werden Ver- mehrungsfaktor A, Qualitätsfaktor Q und Zerfallsanteil D unabhängig vom langfris- tigen Überleben definiert, erlauben es aber durchaus, letzteres vorauszusagen. Fitness unabhängig vom langfristigen Fort- pflanzungserfolg zu messen , ist allerdings sehr schwierig. Trotzdem ist es möglich, die Evolutionstheorie empirisch zu testen. Ja, es gibt falsifizierbare Voraussagen der Evolutionstheorie! Eine Arbeit trägt sogar den Titel Falsifiable predictions of evolu- tionary theory 25 , eine Arbeit, die Popper offenbar nie zur Kenntnis genommen hat. Als eine prüfbare und insbesondere falsifi- zierbare Behauptung der Evolutionstheo- rie nennen wir hier nur ein Beispiel: Sichel- zellenanämie ist eine gefährliche Krankheit. Weil jedoch Sichelzellenanämie teilweise vor Malaria schützt, gibt es in Malaria-ver- seuchten Gebieten im Durchschnitt mehr Menschen, die an Sichelzellenanämie lei- den, als in anderen Gegenden. Wird die Malaria dort ausgerottet oder kommen die Betroffenen in eine Gegend, in der es kei-

darauf eingehen. 28 Was immer wir als Min- destbedingungen für Evolution ansehen – in den meisten Fällen kann doch auch ge- prüft werden, ob diese Bedingungen er- füllt sind oder nicht. Was wir allerdings für alle Evolutionsmo- delle voraussetzen, ist die Zeit als funda- mentaler Parameter. Denn zur Evolution gehört Veränderung, und Veränderung gibt es immer nur in der Zeit. Eine zeitlose Theorie der Evolution ist undenkbar. Es wäre also zu diskutieren, ob der Grund- parameter Zeit eine metaphysische Vo r - aussetzung unserer evolutionären Welt- modelle ist. Ist sie es, so ist doch immer- hin denkbar, dass man eines Tages mit einer zeitlos arbeitenden Theorie erfolg- reicher wäre. Zeit wäre darin kein Grundbe- griff mehr, sondern ein abgeleitetes Konzept, so wie der Druck eines Gases sich nach der statistischen Thermodynamik von Lud- wig Boltzmann (1844-1906) als Mittelwert aus den Geschwindigkeiten bzw. dem Im- pulsübertrag der einzelnen Moleküle auf- fassen lässt. Dann würde die Zeit wenig- stens zur guten Metaphysik gehören. Das ist jedenfalls eine zulässige Überlegung. Werden wir lange genug leben, diese Über- legung bestätigt oder widerlegt zu sehen? Warten wir’s ab! Wir könnten weiterfragen: Gibt es – au- ßer der Zeitabhängigkeit – Merkmale, die alle Abschnitte der kosmischen Entwick- lung gemeinsam haben? Und sind diese Züge substanziell genug, dass wir in allen Fällen von Evolution sprechen wollen? Man- che Biologen wollen den Evolutionsbegriff auf die Biologie beschränkt sehen, etwa der angesehene Wiener Zoologe Friedrich Schaller (*1920). 29 Er möchte weder von chemischer Evolution noch von kosmi- scher Evolution sprechen, auch nicht von Kulturevolution. Dieser Purismus ist über-

trieben. Die Biologie hat den Evolutions- begriff nicht gepachtet; er bedeutete schon vor Darwin etwas anderes; und er wird längst in einem allgemeineren als dem bio- logischen Sinne gebraucht. Wir sind so- gar froh, von universeller Evolution spre- chen zu können: So können wir den evo- lutionären Charakter unseres gesamten Universums und seiner Teile zum Aus- druck bringen. Und die Biologen können stolz sein, eine so fruchtbare Idee gelie- fert bzw. hoffähig gemacht zu haben.

9. Gibt es eine Evolutionäre Metaphy- sik? Typische Themen der Metaphysik sind – wie wir betont haben – Gott, Freiheit, Un- sterblichkeit, der Ursprung alles Seienden oder sogar allen Seins, Anfang und Ende der Welt, der Sinn der Welt, das Wesen aller Dinge. Die Metaphysik ist zwar eine Wirklichkeitswissenschaft, aber keine Er- fahrungswissenschaft. Evolution dagegen, ganz gleich, ob bio- logische oder universelle Evolution, ist zwar keine Tatsache, wie manchmal be- hauptet wird, wohl aber ein Geschehen, das in mehreren Erfahrungswissenschaf- ten beschrieben wird. Sie ist der Erfah- rung also durchaus zugänglich. Kann es dann eine Evolutionäre Metaphysik über- haupt geben? Ist der Ausdruck ‚Evolutio- näre Metaphysik’ nicht ein Widerspruch in sich? Nicht unbedingt. Erstens kann es eine Entwicklung oder Evolution der Metaphy- sik als einer philosophischen Disziplin geben. Das ist allerdings nicht unser The- ma. Zweitens kann man untersuchen, ob der Evolutionsgedanke selbst schon ein Stück Metaphysik ist. Diese Frage haben wir bereits diskutiert und mit Nein beant- wortet. Drittens kann eine metaphysische

Theorie durchaus evolutionäre Elemente enthalten. Zeitliche oder evolutionäre Ele- mente könnten sogar den Grund unserer Welt ausmachen. Diese Möglichkeit wol- len wir im Folgenden diskutieren. Viertens kann man fragen, ob unsere Neigung oder Fähigkeit, Metaphysik zu betreiben, evo- lutionäre Wurzeln hat. Auf diese Frage kommen wir in Kapitel 11 zurück. Die Frage nach den Grundbausteinen der Welt ist alt. Sind es Demokrits Atome , sehr kleine, aber doch materielle Körper? Sind es die Leibnizschen Monaden , merkwür- dige Gebilde, die irgendwie körperliche und geistig-seelische Merkmale vereini- gen? Sind es, entsprechend dem Stan- dardmodell der heutigen Mikrophysik, Ele- mentarteilchen , also Quarks, Leptonen, Gluonen, Higgs-Teilchen und vielleicht noch einige weitere? Oder sind es, wie jün- gere Ansätze vorschlagen, sogar nur Strings , Branen oder Loops? Sind es, wie Ludwig Wittgenstein zu Beginn seines Tractatus erklärt, die Tatsachen , also alle bestehen- den Sachverhalte? Oder sind es, wie Ru- dolf Carnap meint, eher die Elementar- erlebnisse? 30 Sind es, wie die Sprache na- helegt und wie Mario Bunge in seiner On- tologie ausführt, ganz allgemein Dinge mit ihren Eigenschaften? 31 Ist es, wie Carl Friedrich von Weizsäcker vermutet, gera- de nicht Materie und Energie, sondern Information? Oder sind – so fragen wir nun weiter – die Grundbausteine der Welt vielleicht Ereignisse , Ereignisketten, Vor- gänge, Prozesse, die von vornherein ei- nen zeitlichen Aspekt mitbringen? Hier könnte eine Evolutionäre Metaphysik an- setzen. Bei der Frage, ob die Welt aus Elementen mit zeitlichem Aspekt aufgebaut ist, gibt es eine wichtige Alternative, die zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterschei-

det: Kann die Welt in dieser Weise gedacht werden oder ist sie tatsächlich so aufge- baut und muss sie, wenn wir sie korrekt beschreiben wollen, auch so beschrieben werden? Diese Frage ist nicht a priori ent- scheidbar. Selbst der Hinweis, dass un- sere Sprache oder unsere Logik Objekt- orientiert seien, reicht hierfür nicht aus; denn wir könnten ja eine neue Sprache oder eine neue Logik erfinden oder ver- einbaren. Üblicherweise schreiben wir der Welt da draußen eben jene Eigenschaften zu, mit denen wir am erfolgreichsten sind. Sind wir mit einer Prozess-Metaphysik erfolgreicher als mit einer Teilchen-Meta- physik, so werden wir sagen, die Welt sei nicht aus Teilchen, sondern aus Prozes- sen aufgebaut. Es bleibt uns deshalb nur, versuchsweise eine Ontologie oder Meta- physik auf Ereignissen oder Prozessen auf- zubauen und zu prüfen, wie weit wir mit ei- nem solchen Versuch kommen. Solche Ver- suche sind mehrfach unternommen wor- den. Wir wollen einige davon diskutieren.

10. Kandidaten für eine Evolutionäre Metaphysik: Whitehead, Popper, Pri- gogine Whiteheads Prozess-Ontologie Eine Prozess-Metaphysik entwirft etwa Alfred North Whitehead (1861-1947), Ma- thematiker und Philosoph, in seinem um- fangreichen Werk Prozess und Realität. 32 Man wird nicht behaupten können, er sei damit besonders erfolgreich gewesen. Ob er seine Metaphysik als Evolutionäre Me- taphysik charakterisiert sehen möchte, be- dürfte einer genaueren Untersuchung. In jüngerer Zeit scheint das Interesse an White- head und seiner Prozess-Philosophie wie- der zu wachsen. 33 Es gibt aber auch neuere Versuche zu einer Ereignis-Ontologie, die sich auf Russell,

Vom Sein zum Werden – vertritt Prigo- gine eine Evolutionäre Metaphysik? Auch Ilya Prigogine (1917-2003), Physi- kochemiker und Nobelpreisträger 1977, hat versucht, den Weg von einer Physik des Seins zu einer Physik des Werdens zu weisen bzw. selbst zu gehen, insbeson- dere die Prozesse der Thermodynamik, der Selbstorganisation, des Nichtgleich- gewichts, der Irreversibilität und der Struk- turbildung angemessen zu beschreiben. 36 Ein typisches Beispiel ist der Entropiesatz: In einem energetisch abgeschlossenen System kann die Entropie immer nur zu- nehmen. Dieser Satz zwingt dem Gesche- hen eine bestimmte Richtung auf; hier spielt also die Zeit richtung eine wesentli- che Rolle. Hier nun besteht ein enger Zu- sammenhang mit dem Evolutionsbegriff. 37 Dabei wird zwar der Blick von den stati- schen oder stationären Strukturen auf die Prozesse gelenkt; doch geht Prigogine nicht so weit, den Prozessen ontische oder auch nur epistemische Priorität einzuräu- men. Schließlich spricht er ja auch nicht von einer Metaphysik des Werdens, son- dern von einer Physik des Werdens. Eine Prozess-Ontologie oder eine Evolutionä- re Metaphysik wird man ihm deshalb eher nicht unterstellen. Wir kommen damit von einer evolutionä- ren Ontologie zu einer evolutionären Epis- temologie. Allerdings geht es uns dabei nicht um unser Erkenntnisvermögen im Allgemeinen, sondern um unser Bedürf- nis nach Metaphysik.

11. Hat der Mensch eine metaphysi- sche Veranlagung und ist sie ein Evo- lutionsprodukt? Wie wir bei der Evolutionären Erkennt- nistheorie unterscheiden zwischen der Evolution der Erkenntnis und der Evolu-

tion der Erkenntnis fähigkeit , so können wir auch unterscheiden zwischen einer Metaphysik als Ergebnis unseres Nach- denkens und einer Fähigkeit oder Veran- lagung, vielleicht einem Bedürfnis, Meta- physik zu betreiben. Dass es Metaphysik gibt, daran besteht kein Zweifel. Gibt es aber auch ein menschliches Grundbedürf- nis nach Metaphysik? Oder ist Metaphy- sik nur eine Beschäftigung für einige? Schon Immanuel Kant (1724-1804) spricht in seiner Kritik der reinen Vernunft von Metaphysik als einer Naturanlage. Die menschliche Vernunft habe ein „eigenes Bedürfnis“, über die Erfahrung hinauszu- gehen, „und so ist wirklich in allen Men- schen, sobald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgendeine Me- taphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben“. 38 – Auch Ar- thur Schopenhauer (1788-1860) schreibt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ein ganzes Kapitel Über das metaphysische Bedürfnis des Men- schen , das den Menschen von allen Tie- ren unterscheidet, sodass er ihn ein animal metaphysicum nennt. Auslöser für dieses Bedürfnis sei – wie schon bei Platon und Aristoteles – das Sich-Wundern, vor al- lem aber die Begegnung mit Tod, Leiden und Not. Dieses Bedürfnis führe dann zu Religionen und zur Philosophie. 39 – Da- gegen sieht Friedrich Nietzsche (1844- 1900) kein Bedürfnis nach Metaphysik, sondern nur ein natürliches Fragen und ein ungestümes Verlangen nach Gewiss- heit; er diagnostiziert sogar einen „ Instinkt der Schwäche , welcher Religionen, Me- taphysiken, Überzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber – konserviert“. 40 Gibt es evolutionäre, also letztlich sogar biologisch-genetische Ursprünge der Me- taphysik? Da wir bei der Religiosität ei-

nen solchen evolutionären Ursprung im- merhin für möglich halten, müssen wir das auch der Metaphysik zubilligen. So spre- chen manche von einem metaphysischen Be- dürfnis 41 , von einem metaphysischen Trieb 42 , von einer Art Instinkt 43. Nun spricht nichts dagegen, für den Hang zur Metaphysik eine genetische Anlage zu vermuten. Es dürfte aber sehr schwer sein, eine solche Anlage auch nachzuweisen. Denn sicher sind metaphysische Überzeugungen an Sprache gebunden. Hat man aber die Spra- che, dann können metaphysische Über- zeugungen auch sprachlich formuliert und weitergegeben werden; einer genetischen Anlage bedarf es dazu nicht. Nicht viel besser steht es mit entwicklungspsycho- logischen Untersuchungen. Wie nämlich will man bei einem Kind eine angeborene Anlage zur Metaphysik erkennen? Sobald es uns auf Fragen antworten kann, könn- te jeder vermeintliche Hinweis auf seine Metaphysik-Fähigkeit schon wieder sprach- lich vermittelt sein. Wie also ließe sich die These widerlegen, dass Metaphysik ins- gesamt ein Kulturprodukt ist und von je- dem Einzelnen individuell erworben wird? Die Frage nach biologisch-evolutionären Ursprüngen der Metaphysik muss wohl vorerst offen bleiben.

12. Ist wirklich alles in Evolution? Nein! Der Evolutionsgedanke, ob metaphysisch oder nicht, ist eine Leitidee, die sich in überraschend vielen Fällen als äußerst nütz- lich erwiesen hat. Daraus folgt allerdings nicht, dass sie auf alles anwendbar sein müsse. Zwar könnte es sein, dass einige Naturge- setze oder Naturkonstanten – im Prinzip auch alle – sich in der Zeit ändern. So wurde schon mehrfach erwogen, ob die

Gravitationskonstante, welche die Stärke

  • oder eher die Schwäche – der Gravita- tion bestimmt, im Laufe der Zeit abnimmt. Wäre das so, dann wären alle Himmels- körper, die durch die Schwerkraft zusam- mengehalten werden, früher kleiner gewe- sen, auch Sonne, Erde und Mond. Und alle Abstände zwischen Himmelskörpern, die einander spürbar anziehen, wären eben- falls kleiner gewesen, der Mond also nä- her bei der Erde, die Erde und alle ande- ren Planeten näher bei der Sonne. Der Physiker Pascual Jordan (1902-1980) meinte sogar, einen überzeugenden Beleg dafür zu haben, dass die Erde einst klei- ner war: Die Erdkruste habe sich gebil- det, als der Durchmesser der Erde nicht 13 000 Kilometer betrug, sondern nur gut die Hälfte. Die Kontinente hätten damals die ganze Erde bedeckt, seien aber durch die Expansion der Erde (so der Titel sei- nes Buches 44 ) auseinander gerissen wor- den, weshalb sie heute – neben den Ozea- nen – nur noch ein Drittel der Erdoberflä- che bedecken. Diese Vermutung hat sich nicht bestätigt. Aber der Mond entfernt sich, wie man durch Laufzeitmessungen von Radar- signalen herausgefunden hat, tatsächlich von der Erde! Dies jedoch nicht deshalb, weil die Gravitationskonstante und damit die Anziehung zwischen Erde und Mond abnähme, sondern weil die Erde durch die Gezeitenreibung in ihrer Drehung gebremst wird, dadurch an Drehimpuls verliert, den wiederum der Mond durch Vergrößerung des Abstandes übernimmt, sodass der Ge- samtdrehimpuls des Erde-Mond-Systems erhalten bleibt – wie es sein muss. Auch für andere Naturkonstanten hat man geprüft, ob sie sich im Laufe der Zeit ver- ändern. Zum Teil ist das dadurch mög- lich, dass man ja bei der Beobachtung fer-

knapp charakterisieren: Es geht um küh- ne Vermutungen und strenge Kritik. Wäh- rend das Kritisieren stark reglementiert ist, gibt es für das Vermuten so gut wie keine Einschränkung. Hier sind Fantasie und Intuition gefragt. Und es spielt keine Rol- le, woher unsere Ideen kommen. Die zahl- reichen Anekdoten, wie große Wissen- schaftler ihre großen Ideen gewonnen ha- ben, belegen das bestens. Gerade deshalb lässt sich wissenschaftliche Kreativität so schlecht steuern. Deshalb können auch aus wilden Speku- lationen, auch aus Elementen guter und schlechter Metaphysik, aus theologischen Konstruktionen und Bildern, aus bibli- schen Schöpfungsberichten und Eschato- logien, aus Märchen und Sagen, aus para- und pseudowissenschaftlichem Unsinn fruchtbare Ideen erwachsen. Wie gut eine Idee ist, zeigt sich nicht an ihrer Herkunft, sondern erst im Feuer der strengen Kri- tik. Ein schönes Beispiel ist die Urknalltheorie. So ziemlich der Erste, der eine solche Theorie aufstellte, war Georges Lemaître (1894-1966), ein belgischer Theologe, Physiker und Astronom. Schon 1927 for- mulierte Lemaître die Hypothese, unser Universum sei aus einem „Ur-Atom“ (französisch „atome primitif“) durch Ex- plosion und fortdauernde Expansion ent- standen. In diesem Modell hat das Weltall erstmals ein endliches Alter, was der bib- lischen Vorstellung von einem Weltanfang sehr entgegenkommt. Hat Lemaître die- ses Modell der Bibel entnommen? Man könnte einwenden, dass Lemaître ja nicht nur Theologe, sondern auch Physiker war und als solcher ganz fachbezogen nach Lö- sungen für die Einsteinschen Gleichungen suchte. Bedenkt man jedoch, dass die Kos- mologen damals mit Einstein der Meinung

waren, das Weltall sei statisch, so darf man wohl doch annehmen, dass Lemaître sei- ne Idee gerade deshalb attraktiv fand, weil sie mit dem biblischen Schöpfungsbericht so schön übereinstimmte. 47 Auch wenn es nicht um den Anfang, son- dern um das Ende des Universums geht, macht man – mindestens terminologisch

  • gern Anleihen bei der Theologie und spricht von physikalischer oder kosmi- scher Eschatologie. 48 In diesem Fall ist man jedoch auf den theologischen Begriff in keiner Weise angewiesen. Vielmehr kann man fast ebenso gut auch vom Ende des Universums sprechen. Allerdings nur fast: Das Wort Ende suggeriert, dass es sich um einen Zeitpunkt in endlicher Zukunft handle. Nach dem heutigen Stand der Kosmologie sieht geht man jedoch eher davon aus, dass sich das Universum im- mer weiter ausdehnt. Es wäre dann zwar „bald“ nicht mehr bewohnbar, wäre aber zu keinem Zeitpunkt wirklich am Ende.

14. Und was lernen wir nun aus unse- ren Überlegungen? - Wir lernen erstens, dass die Gren- ze zwischen Erfahrungswissenschaft und Metaphysik nicht so scharf und eindeutig ist, wie sich das mancher vor- gestellt oder gewünscht haben mag. - Wir lernen zweitens und insbeson- dere, dass auch in der Erfahrungswis- senschaft metaphysische Vorausset- zungen stecken, die für unser Weltbild konstitutiv sind, insbesondere der so genannte metaphysische Realismus. - Wir lernen drittens, dass es mög- lich ist, zwischen guter und schlechter Metaphysik zu unterscheiden: Gute Metaphysik ist kritisierbar und aufgrund der Kritik ersetzbar, schlechte nicht.

  • Wir lernen viertens, dass oft nicht von vornherein klar ist, welche meta- physischen Annahmen denn nun kriti- sierbar sind, weil sich dieser Prozess sehr lange hinziehen kann.
  • Wir lernen fünftens, dass deshalb gegen alle Annahmen Toleranz ange- bracht ist – und Toleranz können wir nie genug aufbringen.

Anmerkungen: 1 So sagt Paulus im Brief an die Philipper 4: „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, be- wahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!“ Wo- bei man (sich) noch etwas befremdet fragen könn- te: Wenn schon sein Friede höher ist als alle Ver- nunft – wie viel höher muss dann erst Gott selbst sein? 2 Zur Einführung eignet sich Gernot Böhme (Hg.): Protophysik. Frankfurt: Suhrkamp 1976. 3 Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Berlin: Springer 1954, 2 1969, Kap. I. 4 Mit 570 DIN A4-Seiten wohl eines der umfang- reichsten „Taschenbücher“, die es überhaupt gibt, ist Christoph Fehige, Georg Meggle, Ulla Wessels (Hg.): Der Sinn des Lebens. Philosophische und andere Texte. München: dtv 2000. 5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur zweiten Auflage 1787, B XIV 6 Heinrich Scholz: Metaphysik als strenge Wis- senschaft. Köln: Staufen 1941; Darmstadt: Wissen- schaftliche Buchgesellschaft 1965 7 Mario Bunge: Is scientific metaphysics possible? Journal of Philosophy 68 (1971) 507-520, auch in Mario Bunge: Method, model and matter. Dord- recht: Reidel 1973, 145- 8 Mario Bunge: Treatise on basic philosophy. Dord- recht: Reidel 1974- 9 Mario Bunge: Treatise on basic philosophy. Vol.

3: Ontology I: The furniture of the world. Dord- recht: Reidel 1977; Vol. 4: Ontology II: A world of systems. Dordrecht: Reidel 1979 10 Mario Bunge, Martin Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Stuttgart: Hirzel 2004, Kap. 1 11 Diese uns doch eher erschreckende Forderung

erhebt ausgerechnet der sonst so tolerante David Hume, dazu noch an prominenter Stelle, nämlich ganz

am Schluss seiner „ Untersuchung über den mensch- lichen Verstand “ (englisch 1748, deutsch 1755). 12 Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Erkenntnis 2 (1931) 219-241; auch in Hubert Schleichert (Hg.): Logischer Empirismus – der Wiener Kreis. München: Fink 1975, 149- 13 Ebd. 240 bzw. 170 14 Hans Reichenbach: Experience and prediction. An analysis of the foundations and the structure of knowledge. Chicago: Chicago University Press 1938, 7 1970 (deutsch: Erfahrung und Prognose. Gesammelte Werke, Band 4. Wiesbaden: Vieweg 1983) 15 Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intel- lektuelle Entwicklung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1979, 121 (englisch 1974) 16 Gerhard Vollmer: Was ist Naturalismus? Eine Begriffsverschärfung in zwölf Thesen. In ders.: Auf der Suche nach der Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild. Stuttgart: Hirzel 1995, 21- 17 John Horgan: The intellectual warrior. Scientific American, Nov. 1992, 20-21 – Ähnlich John Hor- gan: An den Grenzen des Wissens. München: Luch- terhand 1997, 69-70 (englisch 1996) 18 Peter Frederick Strawson: Individuals. An essay in descriptive metaphysics. London: Methuen 1959; Taylor & Francis 1964 (deutsch: Einzelding und logisches Subjekt. Stuttgart: Reclam 1972) 19 Hans Poser: Metaphysik und die Einheit der Wissenschaften. In: Willi Oelmüller (Hg.): Meta- physik heute? Paderborn: Schöningh 1987, 202- 220, dort 218-220. Den Ausdruck revidierbare Metaphysik schreibt Poser – leider ohne Quellen- angabe – Stephan Körner zu. 20 Helmuth Walther: Metaphysik und Evolution. Aufklärung und Kritik 17 (1/2010) 119-131, S. 129 21 Natürlich gibt es noch viele andere Prinzipien der Evolutionsbiologie. In dem Buch Gerhard Vollmer: Biophilosophie. Stuttgart: Reclam 1995, 94-99 sind 17 solche Prinzipien zusammengestellt. 22 Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intel- lektuelle Entwicklung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1979, 244, 249 (englisch 1974) 23 Dazu etwa Michael Ruse: Karl Popper’s philo- sophy of biology. Philosophy of Science 44 (1977) 638-661, p – Michael Ruse: Darwinism defen- ded. A guide to the evolution controversies. Rea- ding: Addison-Wesley 1982, 138-

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Vollmer Atheismus-Metaphysik

Kurs: Gott und die Kirche. Einführung in die frühe Theologie- und Kirchengeschichte (11150)

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Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus
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Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer (Neuburg)
Gott und die Welt
Atheismus, Metaphysik, Evolution
1. Atheismus
Der Atheist glaubt nicht an Gott. Das kann
unterschiedliche Gründe haben. Entweder
hat er noch nie etwas von Gott gehört;
das ist sicher nur selten der Fall. Oder er
ist der Meinung, das Wort ‚Gott’ habe
überhaupt keine mitteilbare Bedeutung,
sodass alle Sätze, in denen dieses Wort
wesentlich vorkommt, unverständlich oder
sinnlos seien. Oder er billigt dem Wort
‚Gott’ durchaus eine Bedeutung zu, ist aber
der Meinung, dass es einen solchen Gott
oder Götter nicht gebe. Er wird deshalb
auch keine Anstrengungen unternehmen,
darüber etwas herauszufinden.
Der Agnostiker dagegen lässt die Frage
nach der Existenz (eines) Gottes bewusst
offen. Er traut sich nicht zu, über die Exis-
tenz und die Eigenschaften Gottes Aus-
sagen zu machen, die sich durch Argu-
mente stützen ließen. Im Allgemeinen ist
er darüber hinaus der Ansicht, dass sich
an dieser Situation auch nichts ändern
werde, dass es uns Menschen also ver-
sagt sei, über die Existenz und die Eigen-
schaften Gottes jemals etwas herauszu-
finden. Genau wie der Atheist wird er es
deshalb auch gar nicht erst versuchen.
Der Theist glaubt an (einen) Gott. Dazu
muss er sowohl dem Wort ‚Gott’ eine ver-
stehbare Bedeutung zusprechen als auch
die Existenz eines solchen Gottes beja-
hen. Das Wort ‚glauben’ verstehen wir
dabei im Sinne einer starken oder schwa-
chen Überzeugung. Diese Überzeugung
muss nicht ununterbrochen bestehen und
braucht nicht über alle Fragen und Zwei-
fel erhaben zu sein. Es genügt, dass man
die Existenz (eines) Gottes in der Regel
bejaht. Gibt es nach meiner Überzeugung
nur einen Gott, so bin ich Monotheist; gibt
es mehrere, so bin ich Polytheist.
Im Folgenden gehen wir davon aus, dass
es möglich ist, dem Wort ‚Gott’ eine inter-
subjektiv annehmbare Bedeutung zu ge-
ben. Danach ist (ein) Gott ein höheres oder
höchstes personales Wesen, Urgrund,
Schöpfer und Erhalter der Welt, mäch-
tig, klug, gut, gerecht. In der Regel hat er
noch viele weitere Eigenschaften, die aber
nicht in allen Religionen dieselben sein
müssen.
Selbst die genannten Eigenschaften kom-
men nicht allen Göttern zu. So haben die
altgriechischen Götter, so mächtig sie sein
mögen, doch auch sehr menschliche und
durchaus endliche Eigenschaften: Sie ver-
lieben sich, sind eifersüchtig, parteiisch,
listig bis hinterlistig, nachtragend, sogar
rachsüchtig; sie konkurrieren miteinander,
arbeiten auch gegeneinander und werden
manchmal erst durch ein Machtwort des
Göttervaters zum Frieden gezwungen.
Zeus selbst musste sich seine Stellung erst
blutig erkämpfen, indem er seinen Vater
Kronos entmachtete, der seinerseits sei-
nen Vater Uranos bezwingen musste. Bei
mehreren Göttern ist das auch kein Wun-
der: Wären alle Götter gleich, so würde ja
einer von ihnen genügen.
Der Monotheismus hat diese Schwierig-
keiten nicht. Es gibt keine Konkurrenz,
und Gott kann im Prinzip alle positiven
Eigenschaften im höchsten Maße besitzen.
(Solche All-Eigenschaften führen häufig zu
Paradoxien, etwa zur Allmachts-Parado-